Bye, bye, “Mutter Beimer”! – Abschied von der Lindenstraße
Der Serien-Marathon der Marie-Luise Marjan – und wie sie einmal einen Zwischenstopp bei Zurheide einlegte!
Lernen, Verarbeiten, Spielen: Das ist die Melodie ihres Berufes. Fans aller Generationen folgten diesem Takt – und gebannt dem schier endlosen Verlauf der „Lindenstraße“. Jetzt ist der letzte Vorhang für den ARD-Dauerbrenner gefallen; mit der Folge Nr. 1758 gesendet am 29. März 2020 um 18:50 Uhr. Hommage an eine große Charakter-Darstellerin, die auch schon bei uns zu Gast war – und an eine deutsche Institution!
Sie lieh ihre Stimme schon Königin Lillian in „Shrek“, ihren Namen einer weißen Rose und schrieb als „Helga Beimer“ ein Stück Fernsehgeschichte mit. Multiple Persönlichkeit? Die besitzt Marie-Luise Marjan – wie jede gute Schauspielerin.
Die Unmittelbarkeit des Filmens sei wie Stabhochsprung aus dem Stand, Theaterspielen jedoch verlange mehr Konsistenz, etwa wie ein 3-stündiger Marathon, sinniert sie im Zurheide-Interview. Doch manchmal verhält es sich genau umgekehrt …
Ruhm aus der Röhre …
Lange schon beeindruckt sie auf der Bühne, brilliert als Hure „Jenny“ in Berthold Brechts Dreigroschen-Oper oder spinnt als Schillers „Millerin“ Intrigen, als sie 1959 von der Fernsehkamera entdeckt wird. Diese liebt ihr Gesicht von Anfang an, in ihrem Fokus entfaltet es sein volles Potenzial.
… und emotionale Schlagkraft
Die Zuschauer fiebern mit, wenn sie im „Untergang der Freiheit“ fast zur Mörderin wird, wenn sie als Elvira Rykalla in Wolfgang Petersens Pseudo-Doku „Smog“ die Herzen berührt oder als „Dörchen“ dreckige Kneipenwitze erzählt – auf Geheiß von Faßbinder in „Berlin Alexanderplatz“. Die Kraft ihres Spiels lässt sie schnell von der Austauschbarkeit in die Alleinstellung avancieren: Ihr Mitwirken gewinnt an Reiz, auch in großen Filmproduktionen.
„Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.“
Für andere war Rainer-Werner Faßbinder ein Dämon, der sich und seine Crew bis zur Schmerzgrenze ausbeutete – der den Menschen unter die Haut kroch, auf der Suche nach Wahrheit. Für Marie-Luise Marjan war er schlicht ein großer Junge, dem sie auch mal einen Wunsch abschlug: Er will sie für Heinrich Manns „Bibi“, sie lehnt ab: Zu engmaschig ist ihr eigener Spielplan. „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin“, hat Faßbinder zu Lebzeiten skandiert. Nichts trifft besser auf ihn zu – oder auf Marie-Luise Marjan: Wenn aus Beruf Berufung und aus Berufung später Besessenheit wird, wächst die Gier, alle Facetten des Daseins auszuleuchten – bis in die schattigsten Winkel der Seele.
Ein bisschen „Crime“ muss sein
Als TV-Ikone der Lindenstraße blickt Marie-Luise Marjan auf ein farbenprächtiges Sittengemälde zurück: „Zählt man zusammen, was dort an Verfehlungen passiert, kommen leicht zweihundert Jahre Knast zusammen.“, scherzt sie einmal als Talkgast von Thomas Gottschalk. Ob Medizin-Skandal, Betrug, Diebstahl oder Fahrerflucht: Hans Geißendörfers intellektuell angehauchte Sozio-Soap leuchtet tief in gesellschaftliche Abgründe – und bohrt noch tiefer, demaskiert Drogenhandel, Korruption oder Nazi-Vergangenheit. Auch bei Aids-Schicksalen, Vergewaltigung in der Ehe oder Alkoholismus wird nicht weggesehen. Über all dem schwebte die Figur von Helga Beimer: zeitlos wie ein Archetyp.
Vom Charisma eines guten Menschen
Längst wurde ihre Rolle zur Institution: ein Urbild für Ehrlichkeit, Echtheit und Mütterlichkeit, eine Darbietung, so charismatisch, dass sie unauslöschlich abgespeichert ist im kollektiven Unterbewusstsein einer Nation. Kaum eine Filmproduktion wird so sorgfältig vorbereitet wie die Lindenstraße und doch bleibt stets Raum für aktuelle Ereignisse oder kreative Improvisation. Alle halbe Jahre wurde den Lindenstraßen-Stars ein Karton mit bis zu fünfzig Drehbüchern zugestellt. In der Kiste von Marie-Luise Marjan befand sich das Schicksal von „Mutter Beimer“. Für die Wahrhaftigkeit der Heldin standen Auszeichnungen wie Bambi, Telestar oder die Goldene Kamera und an die 13 Millionen Lindenstraßen-Fans.
A Memory: Marie-Luise Marjan live bei Zurheide
„Da läuft man die Tage nichtsahnend über die Arbeit. Wer schaut um die Ecke und grüßt freundlich? Genau!“, staunten unsere Mitarbeiter und brachten die Faszination auf den Punkt: Es hat schon etwas Unwirkliches, wenn eine Person des öffentlichen Lebens, die man sonst nur über den Bildschirm flimmern sieht, unvermutet Präsenz zeigt: so geschehen an einem längst vergangenen Septembertag in unserer Café-Lounge in Düsseldorf-Reisholz. Zurück bleibt die Erinnerung an eine große Künstlerin – und ihre spannende Lesung: Im Rahmen einer Buchvorstellung erfuhr das geneigte Auditorium, was später die Lektüre erst enthüllen sollte: die frühkindlichen Ambitionen prominenter Protagonisten wie Hellmuth Karasek, Nana Mouskouri, Claudia Roth, Frank Elstner oder Hans-Dietrich Genscher, dem eine väterliche Ohrfeige das Rauchen verleidete und später als Erwachsenem das Leben rettete.
Weitere Schlaglichter blitzten auf …
Mal warfen sie ihren Lichtkegel auf Hermann Bühlbecker, mal stehen Henning Krautmacher, Ludger Stratman, Matthias Reim oder Cornelia Poletto im Fokus. Das Grundrauschen – sonst vertrauter Klangteppich jeder Café-Lounge – verhallte, Stille kehrte ein: Zu spannend sind die Enthüllungen, zu facettenreich das Szenario, um die Zuhörer nicht in seinen Bann zu schlagen. Eine Frage steht noch im Raum: Welchen Kindheitstraum hegte Marie-Luise Marjan? Die Antwort liegt auf der Hand …
Schon als Kind kostümiert sich „Marlies Wienkötter“
… so ihr Mädchenname – mit Kartoffelsack oder Gardinen, als 12-Jährige spielt sie bei einer Schulaufführung mit und mehrfach, viel später, am Staatstheater, sogar um ihr Leben. So wird sie einmal auf der Bühne fast erdrosselt, ein anderes Mal stürzt ein Balken von der Decke. Der Weg zum Ruhm war anfangs dornig, Opfer und Entbehrungen an der Tagesordnung: Zwischen den Engagements wurde oft nur „Blümchenkaffee“ getrunken, so dünn und wässrig, dass das bemalte Porzellan durchschien.
Ehrlichkeit, Echtheit, Herzlichkeit
Sensibilisiert eine Kindheit im Waisenhaus und später bei Adoptiveltern für das Leid anderer Menschen? Bis heute verhilft die Marie-Luise-Marjan-Stiftung benachteiligten Jugendlichen und ihren Familien zu besseren Lebenschancen und erzielte schon im Jahr ihres Bestehens wahre Spendenrekorde, u. a. auch durch eine Patenschaft im Rahmen von „Plan international Deutschland“. Das Interview war fast beendet, als Stimme und Blick noch einmal eindringlich wurden und die Aura als „Mutter der Nation“ spürbar: „Eine kleine Schule, ein kleines Krankenhaus – hier geht es vor allem darum, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Arme Gemeinden können mit unserer Unterstützung endlich wieder zuversichtlich in die Zukunft blicken. Schreiben Sie das bitte!“
Auf Tuchfühlung mit einer Legende
Journalisten drängen vor, der Platz an ihrer Seite ist umkämpft. Bevor die Kameras klicken dürfen, zupft Frau Marjan noch einmal resolut das Outfit ihres Begleiters zurecht: „So, das sieht doch schicker aus!“ Dann entfaltet die TV-Ikone ihren legendären Charme: bodenständig, professionell – und dabei stets Herz erwärmend spontan. Selbstredend würde sie am liebsten jeden Gast umarmen, aber die Schnur des Mikrophons sei nicht lang genug: „Fühlt euch alle gedrückt!“ Schon bald würde ihre tragfähige Stimme durch unsere Rösterei hallen und die Lesung ankündigen. Doch vorher nippt sie noch einmal an ihrer Tasse und spricht aus, was alle denken: „Die Atmosphäre hier, der Kaffee, das italienische Gebäck – einfach wunderbar!“ Wie dieser Tag, gespeichert im Archiv unserer Erinnerung …
CLAUDIA ROOSEN
Weiterführende Links
Die Marie-Luise-Marjan-Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, benachteiligten Kindern und Jugendlichen neue Bildungsperspektiven zu eröffnen – für eine bessere Zukunft:
https://www.marie-luise-marjan-stiftung.de/
https://www.amazon.de/Kindheitsträume-Prominente-erzählen-ihrem-Lebenstraum/dp/394245324X